Es ist mir immer eine große Freude, meine polnischen Landsleute auf meinem Blog in der Kategorie “Poland to go” vorstellen zu können. Ich möchte Euch damit zeigen, wie bunt und vielfältig die polnische Community in Deutschland ist und wie viel wir anzubieten haben!
Dieses Mal habe ich einen Gastbeitrag von Agnieszka Pacyga-Łebek bekommen. In diesem Artikel schreibt sie über die eigenen Grenzen und die Grenzen unserer Familien und ermutigt uns, diese zu schützen.
Agnieszka ist Psychotherapeutin und Soziotherapeutin im Bereich der psychodynamischen Psychotherapie. Ihre Erfahrungen hat sie u.a. im Zentrum für Heilung von Depression und Neurose „Feniks“ in Gliwice (Gleiwitz/Polen) auf der Tagesstation für Heilung von affektiven Störungen und auf der Tagesstation für Heilung von Neurose gesammelt. Eine weitere Stelle mit der sie beruflich eng verbunden war, ist das Zentrum für Familien- und Paartherapie in Gliwice, wo sie eine individuelle, Familien- und Paar-Psychotherapie geleitet hat. Dort hat sie auch einen Geburtsvorbereitungskurs „Näher zum Kind, näher zu sich selbst“ gegründet und geleitet. Zusätzlich hat sie in dem stationären Hospiz für Erwachsene und für Kinder in Mysłowice (Myslowitz/Polen) gearbeitet, wo sie krebskranke Patienten und dessen Familien unterstützt hat.
Agnieszka verfügt auch über Erfahrungen als Sozialarbeiterin und Streetworkerin. Sie hat psychosoziale Unterstützung, sowie Workshops und Hilfsgruppen für bedürftige Menschen geleitet.
Seit einem Jahr wohnt Agnieszka in München und erweitert ihre beruflichen Interessen durch Bildung, Workshops und therapeutische Tätigkeiten im Kreis der Polen in München. Privat ist sie Mutter zweier Kinder.
Wer bestimmt die Regeln?
Stell dir ein Haus vor. Die Tür ist offen. Der Weg, der zu diesem Haus führt ist verwahrlost. Die Fußstapfen der Einwohner sind durch die Fußstapfen der zufälligen Gäste zertreten. Man weiß nicht, wer in diesem Haus wohnt und wer die Regeln bestimmt. Kannst du dir vorstellen, wie das Innere des Hauses aussieht?
In den Regalen stehen verstaubte Gegenstände – niemand greift nach ihnen. Die Einwohner wissen nicht, was ihnen gehört und was die Gäste hinterlassen haben. Die Möbel sind ungeordnet aufgestellt. Ich weiß nicht wer in diesem Haus wer ist. Das erweckt bei mir Unruhe. Ich gehe weiter und sehe eine niedergerissene Wand. Mit Unbehagen beobachte ich die Konstruktion des Hauses. Ich habe das Gefühl, dass ich mich auf einem unstabilen Boden befinde. Ich will auf die Einwohner zulaufen und ihnen meine Befürchtungen mitteilen. Sie werden mich leider nicht hören. Irgendjemand kommt rein, ein anderer geht raus – ein Dritter hinterlässt ein Lächeln, der Nächste Vorwürfe. Jeder der Besucher bestimmt seine eigenen Regeln – die Einwohner nicken nur mit dem Kopf und tanzen und wechseln andauernd die Musik. Erschreckend.
Familien oder Paare, die eine psychotherapeutische Beratung brauchen, nennen unterschiedliche Gründe als Ursache, warum Sie sich zu einer Beratung angemeldet haben. Z.B. Probleme mit den Kindern, ein misslungenes Sexualleben, zahlreiche Auseinandersetzungen, Kommunikationsstörungen oder enttäuschende Beziehungen.
Gestörte Grenzen
Oft ist der Ursprung schwieriger familiärer Situationen gestörte Grenzen in der Familie. Bei Betrachtung des Themas weise ich immer darauf hin, dass die individuellen Grenzen der Familienmitglieder zu respektieren sind. Jeder hat das Recht auf Entwicklung, Achtung, Privatsphäre und auf kleine Marotten. Es ist wichtig zu bestimmen wo „Ich“ endet und wo die andere Person anfängt.
Die Nachlässigkeit der eigenen Grenzen, drückt sich mit der fehlenden Achtung für sich selbst, Unterwürfigkeit und Aggressivität in der Beziehungen, ein allgemeines Gefühl des „nicht im Reinen“ mit sich selbst zu sein im Verhältnis mit anderen aus. Ein anderes Beispiel ist das nicht Respektieren der individuellen Grenzen der Familienmitglieder durch das Lesen von Korrespondenz, Tagebüchern, fehlendes achten der Intimsphäre, usw.
Eltern übernehmen die Verantwortung
Eine weitere Grenze über die ich schreiben möchte, ist die zwischen Kindern und Eltern. Derzeit sind Erziehungstrends angesagt, die die natürliche Elternrolle bestreiten, bei der die Eltern ihre eigenen Kinder anführen sollen. Die Eltern sollten den Kindern erlauben, Kinder zu sein und trotzdem dafür die Verantwortung übernehmen. Sogar das vernünftigste Kind sollte nicht in die Probleme der Erwachsenen hineingezogen werden. So eine Verwirrung in der Rollenaufteilung bedeutet immer Ärger. Es ist gut zu wissen, wer welche Funktion in der Familie hat. In der Regel wird es durch die Eltern bestimmt, was dem Kind Sicherheit gibt.
Ich gebe gerne einige Beispiele der Überschreitung der Grenzen: ein Elternteil bespricht mit dem Kind das Verhalten des anderen Elternteils. Ein Elternteil lässt die andere erwachsene Person aus und bespricht die Finanzen mit dem Kind. Ein Elternteil schläft auf der Couch und das andere mit dem Kind. Eltern belasten ihre unreifen Kinder mit ihren eigenen Problemen.
Familie und die Umgebung
Die letzte Grenze die ich besprechen möchte, ist die Grenze zwischen der Familie und ihrer Umgebung. Es ist oft ein recht aufregendes Thema. In ersten Linie treten die Kontakte mit den Schwiegereltern hervor, also die Feststellung, wie die gemeinsamen Kontakte aussehen sollten. Diese Festlegung ist die Grundherausforderung, mit der sich eine junge Familie messen muss.
Bei Gründung einer Familie, bringt man Rituale, Werte, Vorstellungen und Niederlagen aus der eigenen Ursprungsfamilie mit ein, aber man bildet gemeinsam einen dritten Wert. Sehr oft treten Probleme auf durch den fehlenden Schutz der Grenze der neuen Familie und den übertriebenen Eingriffen der Ursprungsfamilien. Oder aber auch durch die finanzielle Abhängigkeit von den Ursprungsfamilien, eine übertriebene Symbiose und fehlende Bereitschaft sich von der Ursprungsfamilie zu entfernen zugunsten des Partners.
Ich möchte noch weitere Beispiele von gestörten Verhältnissen erläutern. Der Ehemann bespricht die Finanzangelegenheiten mit seinen eigenen Eltern und lässt die Ehefrau aus. Die Ehefrau beauftragt immer ihren Vater mit Handwerksarbeiten und übergeht dabei ihren Ehemann. Die Großeltern rivalisieren mit den Eltern um die Liebe der Enkel. Nach jedem Streit zieht der Vater aus dem Familienhaus aus. Oder die die Schwiegermutter putzt die Wohnung der jungen Familie ohne Erlaubnis.
Schützen wir die eigenen Grenzen
Das Thema der Grenzen ist breit und äußerst interessant. Mein Ziel war es, darauf aufmerksam zu machen, dass die individuellen und die in der Familie funktionierenden Grenzen eine empfindsame Materie sind und Schutz verlangen.
Selbstverständlich ist wie bei allen Dingen, die goldene Mitte, die optimale Lösung.
Zurück zur Hausmetapher: ich glaube, dass es ungesund ist, alle Fenster und Türen zuzumauern. Ein Haus, das mit der Welt nicht kommunizieren kann, ist eine deprimierende Festung, deren Familienmitglieder nicht mit voller Brust atmen können. Auf der anderen Seite, sperrangelweit geöffnete Türen und Fenster verursachen, dass das Haus zertreten werden kann und die Familienmitglieder darin keinen Zufluchtsort finden, wo sie sich vor der ganzen Welt verstecken können.
Ein Haus dessen Grenzen sicher sind, hat Fenster, durch die eine Familie in die umgebene Welt schauen kann. Es hat aber auch geschlossene Türen, die die Gäste zum Anklopfen ermuntert. Jeder hat dort einen Platz, wo er mit sich alleine sein kann. Ein Haus mit Schlafzimmern und Kinderzimmern. Und was noch wichtig ist: ein Haus mit einen Raum, in dem sich alle gemeinsam aufhalten können.
Und am Ende des Weges zum Haus ist ein Tor und hinter dem Tor Familie, Freunde, Nachbarn und Schmetterlinge. Jeder hat seine eigenen Grenzen. Beachten wir sie und zeigen anderen unsere Grenzen.
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