Meine Kindheitserinnerungen an Allerheiligen sind sehr stark. In Polen ist es nicht nur ein kirchlicher und staatlicher Feiertag, sondern auch eine wichtigste Zeit für Familien, die diese Gelegenheit nutzen, sich am Familiengrab zu vereinigen und Bekannte zu treffen. Für ein paar Tage herrscht im ganzen Land der Ausnahmezustand, der nur mit dem Oktoberfest in München zu vergleichen ist, auch wenn der Anlass zum Feiern etwas unterschiedlich ist…

Ursprünglich wurde an diesem Festtag allen bekannten und unbekannten Heiligen gedacht. Im Kommunismus hat sich durch die große Unterstützung der Partei der Schwerpunkt auf das Gedenken der Verstorbenen verlegt. Das heißt, dass die Polen hauptsächlich ihre Familiengräber oder die Gräber der berühmten Persönlichkeiten besuchen.

Am 1. November ist es in Polen Pflicht, die Verstorbenen zu ehren und ihnen zu gedenken. Als Kind irritierte mich dieser Zwang, aber die Regelmäßigkeit und der Umfang dieses Festes hinterließen eine tiefe Verbundenheit und eine starke, fast greifbare Erinnerung. Die Blätter, die unter den Füßen raschelten, die rot-orangenen Lichter, die bei Dämmerung den Weg erleuchteten, der Geruch Tausender Grablichter, der in der Luft schwebte – all das kommt sofort wieder vor meine Augen, wenn ich an das Fest denke.

Besucher auf dem Friedhof in Polen

Falsch wäre es aber, Allerheiligen in Polen nur zu einer Scheingeste zu reduzieren. Die “Totenfeiern” haben eine lange Tradition in der polnischen Kultur und haben ihren Ursprung in der vorchristlichen baltisch-slawischen Zeit. Die Menschen wollten mit den Verstorbenen Kontakt aufzunehmen und sich derer Obhut anvertrauen. Auch heutzutage werden an Allerheiligen die Gedanken und Gebete an die Verstorbenen besonders intensiv geäußert. Für Kinder bietet diese Feier die Möglichkeit, sich mit dem Thema “Tod” auseinanderzusetzen und über die verstorbenen Familienmitglieder zu sprechen. Wir nahmen immer ein paar zusätzliche Grablichter mit und stellten sie an die leeren Gräbern, die niemand besuchte und die ganz traurig im Dunkel lagen. Oder aber auch an Gräber verstorbener Kinder – schon damals spürte ich die Besonderheit dieser Situation.

Was macht Allerheiligen in Polen noch so besonders?

In Polen gibt es ganz andere Gräber als in Deutschland. Sie werden nicht nur unter der Erde, sondern auch darüber gebaut. Jedes Grab ist also ca. kniehoch. Außerdem werden die Gräber mit dekorierten Tafel, einem massivem Kreuz oder einer kleinen Statue geschmückt. Auf manchen Tafeln sind sogar Fotos der verstorbenen Personen zu sehen. An Allerheiligen werden zusätzlich viele große Blumensträusse und ausgefallene Grablichter mitgebracht. Dezent und schlicht ist es nicht, aber alles wird mit viel Liebe und Aufwand, oft schon ein paar Tage davor, vorbereitet.

Gräber in Polen

Ganz besonders ergreifend werden die Friedhöfe am Abend, wenn die Sonne untergeht. Auf einmal zünden die Friedhofsbesucher gemeinsam Lichter an den Gräbern von Dichtern, Schauspielern, Musikern, Politikern oder Künstlern an und spüren diese besondere Vereinigung.

Viele Polen fahren in andere Städte, um verstorbene Verwandte oder Freunde zu ehren. Und ich meine nicht nur, dass sie in das nächste Dorf fahren, sondern manchmal hunderte Kilometer zurücklegen, um Familiengräber zu besuchen. Eine richtige Volkswanderung, die über 3-4 Tage anhält!

Bei manchen Polen löst die Zeit eine unglaubliche kaufmännische Gier: sie sehen Allerheiligen als eine hervorragende Möglichkeit, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen. Ein Stand mit den Grablichtern oder mit Chrysanthemen am Friedhof ist eine richtig gute Einnahmequelle und den Kampf um einen günstigen Platz am Friedhofseingang kann man vermutlich nur mit dem Festzeltenstand auf der Wiesn vergleichen!

Verkäufer am Friedhof Polen

Es stimmt aber nicht, dass die meisten meiner polnischen Landsleute Allerheiligen nur oberflächlich erleben. Für die Mehrheit ist es doch eine Begegnung mit den eigenen Erinnerungen, mit der Familiengeschichte und der Ewigkeit. Und deswegen muss symbolisch ein kleines Grablicht als Erinnerung einfach her! Wie oft verirrte ich mich mit meinen Eltern auf großen oder kleineren Friedhöfen, als wir im Dunkeln das richtige Grab suchten. Dieses Licht war einfach eine sichtbare Geste, die aus dem Herzen kam! Das Grablicht ist für die meisten Polen ein Versuch, sich mit dem Tod mehr auseinander zu setzen und ein unsagbarer Wunsch, dass wir selber nicht vergessen werden, auch wenn es uns nicht mehr gibt.

Non omnis moriar

Friedhof im Dunkel Polen